Du siehst, ähnlich wie in der Nutz- und Haustierhaltung haben sich Menschen auch im digitalen Raum daran gewöhnt, mehr von den Tieren zu nehmen, als sie ihnen wieder zurückgeben. Das kritische Echo aus der Nachhaltigkeitsforschung sowie aus Bio-, Umwelt- und Tierethik ließ da nicht lange auf sich warten: Wir dürfen nicht nur ungefragt ihre Bilder und Daten verwenden – Tiere müssen gleichermaßen davon profitieren, zum Beispiel im Monitoring von Lebensräumen oder im Artenschutz.
Damit wir Tiere in der Realität fair behandeln, müssen wir sie auch im digitalen Raum fair repräsentieren – denn dort verbringen wir viel Zeit und investieren große Teile unserer bewussten Aufmerksamkeit.
Diese Wechselbeziehung zwischen unserem Wahrnehmen, Denken und Fühlen in unserer inneren (Gedanken)Welt und unserem Handeln in unserer äußeren Welt ist dir ja schon an einigen Stellen im Kurs begegnet.
Die britische Autorin und Naturforscherin Helen Macdonald formuliert diese reflexive Mensch-Tier-Beziehung in ihrer Essaysammlung ‘Vesper Flights‘ so:
“Animals don’t exist in order to teach us things, but that is what they have always done, and most of what they teach us is what we think we know about ourselves” (Macdonald 2020)
Der australische ‘Feldphilosoph‘ und Natur-Storyteller Thom van Dooren betont in seinem Buch ‘Flight ways: Life and loss at the edge of extinction‘ die Bedeutung unserer menschlichen Verantwortung für das zukünftige Fortbestehen von Tierarten, die nicht zuletzt von unserer affektiven (= gefühlsmäßigen) Verbindung mit ihnen bestimmt wird.
“In taking seriously the entanglements of ways of life across evolutionary, ecological, affective, and multiple other domains, we are inevitably drawn into a set of complex responsibilities for what has come to pass and what may yet still be possible” (van Dooren 2014, S. 147).
Um das Tierwohl auch online in Erinnerung zu rufen, müssen wir dieses Gefühl für Verantwortung in die digitale Welt transportieren.
Nimm dir 10 Min Zeit und informiere dich zu diesen zwei Beispielen des Gelingens. Beantworte für dich selbst folgende Fragen zum Einsatz digitaler Tierdarstellungen:
Was versteht das Berliner Projekt ‘Multispecies Resistance‘ unter ‚collective mapping‘, und wie übertragen sie diese Technik in den digitalen Raum?
Zu welchem Zweck sammelt das australische Blog-Projekt ‘Urban Field Naturalist‘ persönliche Geschichten von Mensch-Tier-Begegnungen als ‘community nature storytelling‘ Ansatz?
Digitale Technologien bieten natürlich auch tolle neue Möglichkeiten, damit Menschen sich wieder mehr mit Tieren beschäftigen!
Unvorstellbar groß ist das Potential von Augmented Reality und Virtual Reality Anwendungen, mit denen Menschen im virtuellen Raum ‘hautnah‘ das Leben der Tiere kennenlernen können, oder sogar in ihren Lebensraum eintauchen. Mit dieser Technologie könnten wir die Welt mit tierischen Augen sehen, oder auch ausgestorbenen Arten begegnen!
Schöner ist es natürlich, wenn die verschiedenen Tierarten überleben können, und wenn wir sie in ihrem ursprünglichen Lebensraum (= der echten Natur) beobachten. Diesem Gedanken folgt die Kalifornische Initiative ‘iNaturalist‘, die Menschen unterschiedlichster Herkunft für die natürliche Vielfalt unserer Umwelt begeistern und wieder hinaus in die Wildnis locken möchte.
Ihr Ansatz? Eine Mischung aus Wikipedia, Shazam und Pokemon Go – mit deinem Smartphone suchst und bestimmst du natürliche Lebewesen! Ob das Modell funktioniert?
Finde auf der Homepage des iNaturalist Projektes heraus, wie deren Mobile App funktioniert. Schau dir dann in diesem Video an, wie die globale ‘Nature City Challenge‘ des Projekts funktioniert, an der du in jedem Frühjahr teilnehmen kannst. Hättest du Lust mitzumachen?
Neben seinem ursprünglichen Ziel, Menschen wieder stärker in Berührung mit der Natur zu bringen, sammelt die iNaturalist App wichtige Daten für die Wissenschaft.
Über ein gesendetes Foto von deinem Smartphone können Ort, Uhrzeit und angetroffene Art genau bestimmt und dokumentiert werden.
Du wirst zum Hobbybiologen und unterstützt damit Wissenschaftler*innen, welche diese Beobachtung nicht selbst machen könnten.
Dieses Prinzip der Bürger*innenbeteiligung an Forschungsprozessen ist in der Bio- und Umweltforschung mittlerweile weit verbreitet und wird als ‘Citizen Science‘ bezeichnet.
Jetzt bist du dran: Installiere dir die Mobile Bestimmungsapp ‘seek‘ der iNaturalist Initiative auf deinem Smartphone oder Tablet. Mehr zur App und wie sie funktioniert erfährst du hier.
Dann gehe aus dem Haus und überlege, wo du ein wildes Tier antreffen kannst – ein Insekt, einen Vogel, Biber, Frosch, Reh oder Eichhörnchen! Bestimme das Tier mit der App und mache einen Screenshot davon. Lade das Bild anschließend hier auf dem Whiteboard hoch – mit einer kurzen Beschreibung dazu, wie du das Tier endeckt hast.
Die iNaturalist Initiative wird dafür kritisiert, unter dem Vorwand des Naturschutzgedankens wertvolle Forschungsdaten zu generieren und, im Sinne der traditionellen Biologie, weiterhin den Menschen als allwissenden Beherrscher der Natur und als “Entdecker und Sammler mit dem Schmetterlingsnetz“ darzustellen.
Dieses Image ist nicht im Sinne einer wertschätzenden und gegenseitig verantwortungsvollen Mensch-Natur-Interaktion auf Augenhöhe, wie wir sie schon einige Male im Kurs thematisiert haben.
Überlege, wie du den Einsatz der App und deine Rolle als Nutzer*in empfunden hast. Was bedeutet es für dich, einen wertschätzenden Umgang mit wilden Tieren zu pflegen? Wie könnte das auf die iNaturalist App übertragen werden?
Teile einen konkreten Vorschlag dazu, wie die App anders gestaltet oder eingesetzt werden kann, um bei Nutzer*innen einen wertschätzenden Umgang anzuregen?